Mannheim – Schmerzmediziner äußerten auf dem Deutschen Schmerzkongress in Mannheim Bedenken hinsichtlich der mangelhaften Versorgung von Menschen mit chronischen Schmerzen in Deutschland. Wie das Deutsche Ärzteblatt bereits am 25. September 2024 berichtete, beklagen die Deutsche Schmerzgesellschaft und die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) das häufig fehlende „vernetzte und abgestufte interdisziplinäre Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen“.
Betroffene warten demnach oft Jahre auf eine Diagnose und erhalten anschließend meist nur eine unzureichende Therapie, da der Schmerz als zentrales Symptom häufig vernachlässigt wird. Dabei sollte chronischer Schmerz als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet werden, das eine gezielte und interdisziplinäre Behandlung erfordert. Das kürzlich veröffentlichte „Weißbuch Schmerzmedizin 2024“ des Berufsverbands der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland (BVSD) unterstreicht dies, indem es aufzeigt, dass Patienten je nach Region zwei bis fünf Jahre auf eine angemessene Diagnose und Behandlung warten müssen.
Joachim Erlenwein, Ko-Kongresspräsident und stellvertretender Leiter der Schmerzmedizin an der Universitätsmedizin Göttingen, betont, dass der Umgang mit Schmerzen nach wie vor unzureichend sei. Er sieht eine deutliche Diskrepanz zwischen der hohen Relevanz des Themas und dem mangelnden gesundheitspolitischen Interesse, trotz steigender Patientenzahlen und enormer Gesundheitskosten.
Langsames Umdenken hin zur interdisziplinären Sichtweise
Häufig werden chronische Rücken- und Kopfschmerzen isoliert von den jeweiligen Fachbereichen therapiert. Ein Umdenken hin zu einer interdisziplinären Sichtweise auf Schmerzerkrankungen findet nur allmählich statt, obwohl Schmerzen multifaktoriell sind und anatomische, psychologische sowie soziale Aspekte eine Rolle spielen, wie Erlenwein hervorhebt.
Dagny Holle-Lee, ebenfalls Ko-Kongresspräsidentin und Leiterin des Westdeutschen Kopfschmerzzentrums am Universitätsklinikum Essen, kritisiert, dass Patienten oft nur monomodale Therapien erhalten, die lediglich auf ein Symptom abzielen. Dies kann die Schmerzen verschlimmern und zu deren Chronifizierung führen. Chronische Schmerzen sind komplexe Krankheitsbilder, die sich selten schnell mit einer Operation, einem Gips oder einer Pille lösen lassen. Eine erfolgreiche Therapie sollte daher spezialisierte ärztliche Schmerztherapeuten, Physiotherapie und Psychologie miteinbeziehen.
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) als Chance
Holle-Lee betont das Potenzial digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA). Algorithmusgestützte Programme könnten Patienten dabei unterstützen, ihre Schmerzsymptome zu dokumentieren, den Krankheitsverlauf zu überwachen und gezielte Übungen zur Schmerzbewältigung durchzuführen. Dies würde nicht nur Ärzte und Therapeuten entlasten, sondern auch die Selbstwirksamkeit der Patienten stärken, indem sie aktiv in den Behandlungsprozess einbezogen werden. Angesichts steigender Patientenzahlen und des Fachkräftemangels, insbesondere in der Schmerz- und psychischen Medizin, müsse das Potenzial von DiGA gezielt genutzt werden.
Erlenwein weist darauf hin, dass im Jahr 2022 lediglich etwa 1.400 Ärzte über die Qualitätssicherungsvereinbarung Schmerztherapie (QSV) an der ambulanten Versorgung von Schmerzpatienten teilnahmen. Dies würde rechnerisch, selbst bei hochgesetzten Fallzahlen, nur etwa einer halben Million Menschen in Deutschland eine spezialisierte schmerzmedizinische ärztliche Versorgung ermöglichen. Das Versorgungsdefizit wird deutlich, wenn man bedenkt, dass von bis zu sechs Millionen Behandlungsbedürftigen ausgegangen wird.
Sorge vor negativen Auswirkungen der Klinikreform
Frank Petzke, designierter Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft, äußert die Sorge, dass die Schmerzmedizin unter der geplanten Klinikreform leiden könnte. Ohne die Einführung einer eigenen Leistungsgruppe würden Fälle der Schmerzmedizin voraussichtlich über eine Vielzahl unterschiedlicher und inhaltlich unpassender Leistungsgruppen streuen, heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme der Schmerzgesellschaft und weiterer Verbände. Spezialisierte Einrichtungen könnten die Mindestvoraussetzungen und Mindestvorhaltezahlen für diese fachfremden Leistungsgruppen vermutlich nicht erfüllen. Für das Überleben der Schmerzmedizin im Zuge der Krankenhausreform sei daher die Einführung spezifischer Leistungsgruppen unerlässlich.
Regionale Unterschiede in der Versorgung
Eine auf dem Kongress vorgestellte Studie, an der Erlenwein beteiligt war, belegt bundesweit relevante Unterschiede in der Erreichbarkeit von Einrichtungen zur speziellen Schmerzbehandlung. Dabei spiele nicht nur der Wohnort (Stadt oder Land) eine Rolle, sondern auch die Behandlungskapazitäten des jeweiligen Bundeslandes. Zwar sei das Angebot in urbanen Gebieten meist besser, doch gerade in ländlichen Regionen seien die Verbindungen im öffentlichen Personennahverkehr oft kritisch oder nicht vorhanden.
Erlenwein fasst zusammen, dass die Ergebnisse aus Patientensicht eine teils kritische Versorgung offenbaren, insbesondere bei einem chronischen Krankheitsbild mit langfristiger therapeutischer Zielsetzung und der Notwendigkeit einer abgestuften Versorgung (langfristig ambulant, intermittierend (teil-)stationär).
Die Versorgungssituation, insbesondere bei Schmerztageskliniken, variiert je nach Bundesland stark. Ein regional breit verteiltes tagesklinisches Angebot gibt es nur in Bayern, Rheinland-Pfalz, Sachsen sowie in Hamburg, Berlin und teilweise in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Für die Mehrheit der Betroffenen sei eine tagesklinische Schmerzbehandlung, vor allem bei täglicher Anreise, somit kein realistisch erreichbares Behandlungsangebot. Die vollstationäre interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST), die in den letzten zehn Jahren eine enorme Verbreitung erfahren hat, sei in den meisten Fällen die einzige realistisch erreichbare Option. Dies führe oft dazu, dass Patienten mit chronischen Schmerzen nur monomodale und oft als nicht wirksam eingestufte ambulante und nicht verzahnte Therapieangebote erhalten. Paradoxerweise müsse sich die Situation der Patienten oft erst verschlechtern, bevor sie adäquat versorgt werden, was in einem verhaltensmedizinisch ausgerichteten Behandlungsansatz nicht hilfreich sei.
Stigmatisierung von Betroffenen
Heike Norda, Vorsitzende des Betroffenenvereins UVSD SchmerzLOS, berichtete von einer nicht-repräsentativen Umfrage unter über 1.200 Menschen mit neurologischen und/oder Schmerzerkrankungen (vor allem Fibromyalgie, chronische Schmerzen und Migräne). Rund 91 Prozent der Befragten gaben an, aufgrund ihrer Erkrankung stigmatisiert zu werden. Als Hauptursachen wurden mangelndes Verständnis und Wissen über die Krankheit sowie deren Unsichtbarkeit genannt. Über 80 Prozent berichteten zudem, dass ihnen bereits von einem Arzt oder einer anderen medizinischen Fachkraft das Ausmaß oder die Schwere ihrer Symptome nicht geglaubt wurde, wodurch sie keine angemessene Behandlung erhielten.
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